top of page

Lisbeth

verlorene Heimat

Lisbeth

Ein Schicksal
aus Ostpreußen

Gotenhafen, 30. Januar 1945

Ein schneidender Ostwind pfeift um die Pier von Gotenhafen in der Danziger Bucht. Die Temperaturen fallen in diesem schneereichen Winter bei extremem Frost bis unter minus 20 Grad. Es herrschen Hunger, Not, Verzweiflung und absolutes Chaos. Zehntausende Flüchtlinge drängen sich hier in den letzten Januartagen des Jahres 1945. In der Hauptsache sind es Frauen, Kinder und alte, nicht mehr wehrtaugliche Männer. Ostpreußen ist von der Roten Armee eingekesselt, die unaufhaltsam Richtung Danzig vorrückt. Und mit ihr die hinter vorgehaltener Hand geflüsterten Schreckensnachrichten der unaussprechlichen Gräueltaten, welche von den sowjetischen Truppen an der Zivilbevölkerung begangen werden. Viele suchen als letzte Hoffnung den Weg über die aufgewühlte Ostsee, um auf sicheres Gebiet westlich der Oder zu gelangen. Auf dem Meer jedoch sind sie noch lange nicht außer Gefahr. Dort lauern feindliche U-Boote und Minenfelder.

Inmitten der verängstigten Menge steht Lisbeth. Eine hübsche junge Frau von gerade einmal 21 Jahren. Sie schluckt, als sie frierend und mit knurrendem Magen dem Schiff hinterher blickt, das um 12:20 Uhr von vier Schleppern hinaus aufs Meer gezogen wird. Es ist die Wilhelm Gustloff. Ein ehemals strahlend weißer Kreuzfahrtdampfer, der nun zur Tarnung einen militärgrauen Anstrich trägt und Teil des Unternehmens »Hannibal« der Kriegsmarine ist. Dessen Ziel ist es, Marineangehörige und verwundete Soldaten mit Schiffen aus dem umkämpften Ostpreußen zu evakuieren. Zusätzliche räumliche Kapazitäten werden mit Zivilisten belegt. Bei der größten Rettungsaktion aller Zeiten über die See werden 2,5 Millionen Menschen in den Westen gebracht. Auf der Gustloff befinden sich an diesem Tag mehr als 10.000 Passagiere, 7.956 werden offiziell registriert. Dann geht das Papier aus. Schätzungen zufolge sollen mindestens weitere 2.500 bis 3.000 Menschen ungezählt an Bord geströmt sein. Wie viele es genau sind, weiß niemand. Das Schiff ist ursprünglich auf 1.463 Fahrgäste und 417 Mann Besatzung ausgelegt. Für Lisbeth und ihre Familie gibt es keinen Platz mehr auf dem völlig überladenen Dampfer. Zu jenem Zeitpunkt ahnt sie noch nicht, dass dieser Umstand ihnen allen das Leben retten sollte.

Gegen 21.15 Uhr wird die Wilhelm Gustloff, die abgedunkelt unter dem Geleitschutz des Torpedobootes »Löwe« fährt, auf offenem Meer von drei Torpedos getroffen, welche das russische U-Boot S 13 unter dem Kommando von Kapitän Alexander Marinescu abgefeuert hat. Ein vierter bleibt im Rohr stecken. Bei minus 28 Grad spielen sich in den Fluten der nächtlichen Ostsee vor der pommerschen Küste unvorstellbar entsetzliche Szenen ab. Die Berichte der überlebenden Zeitzeugen sind erschütternd. Mehr als 9.300 Menschen finden in der Dunkelheit ihr eisiges Grab. Ein Vielfaches der Opferzahl der Titanic-Katastrophe. Nur 1.239 überleben. Die Ostsee ist an der Unglücksstelle etwa 60 Meter tief.

Die Wilhelm Gustloff | Quelle: Imago Images

Lisbeth ist mit ihrer Familie in letzter Minute aus der belagerten Heimatstadt Elbing über Danzig nach Gotenhafen, zu den Schiffen, geflohen. Monatelang war jeder Gedanke an Flucht oder Evakuierung seitens der Gauleitung als Defätismus im Keim erstickt worden. Als die Großoffensive der Roten Armee über Ostpreußen hinweg fegt, bricht heilloses Chaos aus. Das Donnern der russischen Artillerie, der Motorenlärm der Flugzeuge und Panzer dröhnen Lisbeth seit der überstürzten Flucht unablässig in den Ohren. Mit an der Pier warten die jüngere Schwester Hilde, ihre Mutter Ida und der Vater. Emil, ein Veteran des Ersten Weltkriegs, der seinerzeit bereits an der Ostfront gekämpft hat, in Gefangenschaft geriet und aus einem russischen Straflager entschlüpft ist. Damals schlug er sich auf eigene Faust nach Hause durch. Die beiden Söhne Herbert und Helmut verteidigen als Soldaten der Wehrmacht was vom Deutschen Reich noch übrig ist. Schon seit Wochen gibt es keine Nachricht von ihnen. Die Familie besitzt nichts mehr, außer den notwendigsten Habseligkeiten auf einem Leiterwagen.

Ende Januar 1945 werden der Nordteil Westpreußens mit Danzig und der Halbinsel Hela sowie Ostpommern zum Auffangbecken und Durchmarschraum für die Flüchtlinge aus Ostpreußen und den westpolnischen Gebieten. Viele trecken weiter nach Pommern, ein Teil kann mit der Eisenbahn von Danzig oder per Schiff das Terrain westlich der Oder erreichen.

Für Lisbeth und ihre Familie sollte es kein Schiff mehr geben. Etappenweise gelangen sie schließlich mit dem Zug auf sicheres Reichsgebiet. Dort ziehen sie weiter südwärts. Weite Strecken ihrer Flucht bewältigen sie in Ostpreußen zu Fuß in steter Furcht vor dem Beschuss sowjetischer Tiefflieger. Nach Jahren der Gräuel des Naziterrors gewähren die Russen kein Pardon für die fliehende Zivilbevölkerung, die sich in langen Trecks gen Westen aufgemacht hat und von feindlichen Truppen teils regelrecht überrollt wird.

Neue Heimat

Frühling 1946

Weißenburg, Mittelfranken, Flüchtlingslager Wülzburg

Lisbeth steht am nordwestlichen Berghang der Festung Wülzburg und blickt in das malerische Tal hinab, welches von sattgrünen Wiesen und sanft gewellten Hügeln gesäumt ist. Sie trägt ein abgelegtes Kleid, das für ihre schlanke Figur zu groß ist und ihr von einer freundlichen Seele geschenkt wurde. Ein verschlafenes Städtchen schmiegt sich in die wärmenden Strahlen der noch schüchtern scheinenden Frühlingssonne. Der friedliche Ort mit mittelalterlichem Stadtkern hat großes Glück gehabt. Er ist von Bomben und Granaten weitgehend verschont geblieben und hat den Krieg unversehrt überdauert. Nicht zuletzt deshalb, weil sich die US Army Air Force bei ihren Bombardements im Rahmen der Operation »Clarion« (Signalhorn) auf das nur wenige Kilometer entfernt gelegene Treuchtlingen mit dessen strategisch bedeutsamen Eisenbahnknotenpunkt konzentriert hat. Bei einem verheerenden Luftangriff sterben dort am 23. Februar 1945 fast 600 Menschen. Insgesamt 175 Tonnen Spreng- und Brandbomben regnen an jenem »Schwarzen Freitag« auf den kleinen Altmühlort nieder, der zu großen Teilen in Schutt und Asche versinkt.

Lisbeth hebt ihr Gesicht dem hellen Licht entgegen und schließt die Augen. Mit 22 Jahren liegt ein Albtraum hinter ihr, der sie bis zum Ende ihres Lebens nicht mehr loslassen wird. Sie hat Tod und Zerstörung gesehen, in einem sinnlosen und ungeheuerlichen Krieg nahezu alles verloren. Den Verlobten, Matthias, einen U-Bootmann, der auf seiner letzten Feindfahrt verschollen ist. Ihre Heimat, jeglichen Besitz und Habe. Sie wurde ein Opfer von Flucht und Vertreibung, wie die Welt sie in diesem Ausmaß seit der großen Völkerwanderung Ende des vierten Jahrhunderts nicht mehr gesehen hat. Doch das kostbarste Gut ist gerettet: Ihre Familie. Alle haben wohlbehalten überlebt. Auch die beiden Brüder.

Der Europäische Kontinent ist in Bewegung geraten, die Grenzen werden neu gezogen. Zwölf Millionen Menschen suchen nach 1945 ein Zuhause. Lisbeth sollte ihres in Weißenburg finden. Vor der Familie liegen kärgliche Nachkriegsjahre in ärmlichen Verhältnissen. Doch sie ist sehr dankbar dafür, dass ihr Obdach und eine sichere Bleibe gewährt werden. Das Kommende ist zwar ungewiss, aber immerhin voller Möglichkeiten. Lisbeth ist jung. Ihr Wille und Lebensfreude sind ungebrochen. Sie wird diese Chance beim Schopf packen und sich aus eigener Kraft mit bloßen Händen eine Zukunft aufbauen. Mit wenig mehr als nichts.

Ab Februar 1946 finden im Flüchtlingslager Wülzburg mehr als 10.000 Kinder, Frauen, Männer als Heimatvertriebene erste Zuflucht. Es sind Menschen aus dem Banat, Siebenbürgen, Pommern, Ostpreußen, Westpreußen, Schlesien und dem Sudetenland.

Gedenkstätte auf der Festung Wülzburg

Eine schaurige
Gutenachtgeschichte

Weißenburg 1979

Lisbeth blickt nach einem anstrengenden Arbeitstag als Näherin in einer Fabrik entnervt auf ihre ungehorsame Enkelin. Das blonde Mädchen mit der Unschuldsmiene verfügt im zarten Alter von sieben Jahren bereits über einen ausgeprägten Widerspruchsgeist. Heute weigert sich die Kleine vehement – übrigens nicht zum ersten Mal – zur Schlafenszeit brav ins Bett zu gehen.

Schließlich reißt Lisbeth der Geduldsfaden.

»Entweder Du gehst jetzt ins Bett oder der Nachtgieger kommt und packt Dich! Der frisst Dich mit Haut und Haaren auf!«

Große Kinderaugen schauen ihr erschrocken entgegen.

»Oma, was ist ein Nachtgieger?«

Für Lisbeth

zum Andenken

Lisbeth war meine Großmutter väterlicherseits. Die Geschichte ihrer Flucht aus Ostpreußen und die versäumte Passage auf der Gustloff sind Teil meiner Kindheitserinnerungen. Als kleines Mädchen habe ich nie so recht verstanden, warum sie sich bei jedem Sommergewitter verängstigt im Garderobenschrank im fensterlosen Flur ihrer Altbauwohnung verkrochen hat. Damals habe ich darüber gelacht und ihr gesagt, sie solle herauskommen und sich nicht fürchten. Heute weiß ich: Es war das Donnergrollen, welches sie so verstört hat. Es hat böse Erinnerungen geweckt. An Flugzeuge, Panzer und die Geschütze der Roten Armee. An die Schrecken, die sie als junge Frau durch den Krieg erfahren musste.

Es hätte ihr sicherlich gefallen, dass aus der schaurigen Gutenachtgeschichte, die sie einst ihrer Enkeltochter erzählt hat, ein Buch entstanden ist.

Lisbeth ist 2015 mit 92 Jahren friedlich eingeschlafen. Ihre Heimat Ostpreußen hat sie niemals wiedergesehen.

Diese Erzählung ist Lisbeths Andenken gewidmet.

Apokalypse

worüber lange Zeit geschwiegen wurde

Die »Ostpreußische Apokalypse« kostete Hunderttausenden das Leben.

Die Menschen verhungerten oder erfroren im Tiefschnee am Wegrand. Sie starben elendig an Krankheiten, Erschöpfung, an den Strapazen und Gefahren der Flucht.

Unzählige von ihnen fielen dem Wüten und den Kriegsverbrechen der Roten Armee zum Opfer.

Die Versenkung der Wilhelm Gustloff zählt als größte Tragödie der zivilen Seefahrt.

Das Wrack liegt 12 Seemeilen vor der Küste Polens in etwa 45 Metern Tiefe. In polnischen Karten ist es als »Navigationshindernis Nr. 73« verzeichnet. Die Gustloff ist ein als Seekriegsgrab geschütztes Denkmal.

Literatur
Flucht übers Meer | Cajus Bekker
In langer Reihe über das Haff | Patricia Clough


Quellenangaben

  • 62 Minuten dauerte der Todeskampf der Wilhelm Gustloff | Welt

  • 30. Januar 1945 - Flüchtlingsschiff Wilhelm Gustloff wird versenkt | WDR

  • Der Untergang der Wilhelm Gustloff | Spiegel Panorama

  • Die Versenkung der Wilhelm Gustloff | Christopher Dobson

  • Unternehmen Hannibal | Wikipedia

  • Heinz Schön berichtet über die Versenkung der Gustloff | Zentrum der Vertreibung

  • In langer Reihe über das Haff | Patricia Clough

  • Nacht fiel über Gotenhafen | Frank Wisbar

  • Operation "Clarion": Bombenangriff auf Treuchtlingen jährt sich zum 78. Mal von Lidia Piechulek | Nürnberger Nachrichten vom 23.02.2023

  • Seekrieg Ostsee | WLB Stuttgart

  • Verwundeten- und Flüchtlingstransporte über die Ostsee 1945 | Wikipedia

  • Wilhelm Gustloff: Massensterben in der Ostsee | MDR

  • Wülzburg Gedenkstätten | Wikipedia

bottom of page